Vom Livestream zum Lifestream

bleeper_logoIn meinem letzten Post habe ich ja ein bisschen fürs Microblogging getrommelt. Unklar blieb dabei sicherlich, was das Ganze denn mit Keimformen zu tun hat. Dazu muß ich etwas weiter ausholen.

Das, was wir heute mit „Öffentlichkeiten“ bezeichnen, unterscheidet sich vor allem hinsichtlich zweier Parameter. Das eine ist die Größe der Öffentlichkeit. Eine Kneipenrunde ist in einem ganz anderen Sinne öffentlich als dieses Blogposting – alleine schon aufgrund ihrer schieren Menge an Adressaten (das hoffe ich zumindestens!).

Wichtiger scheint mir aber noch der Modus der Öffentlichkeit zu sein. Diese unterschiedlichen Modi kamen alle zu allen Zeiten und an allen Orten vor. Jedoch sind bestimmte historisch auftretende Gesellschaftsformen von jeweils einem Modus der Öffentlichkeit hegemonial geprägt. Ich benutze dabei die Wörter, die normal für Staatsformen („Monarchie“,“Diktatur“,…)  reserviert sind, als auf die Gesellschaft bezogen, weil die Weise, wie die Zivilgesellschaft funktioniert, mindestens genauso entscheidend für die Öffentlichkeit ist wie der Staat. Den Modi der Öffentlichkeit entsprechen jeweils Handlungsmodi, die angeben, welche Art von Handlungen von den Mitgliedern einer Gesellschaft, in der ein entsprechender Öffentlichkeitsmodus wirkt, normalerweise und im Durchschnitt erwartet werden. Ich unterscheide zunächst mal provisorisch vier Modi von Öffentlichkeiten, die sich vor allem in ihrem Bezug zur Legitimität von Herrschaft unterscheiden:

  1. Die Verkündigungsöffentlichkeit. Ein Sprecher gibt etwas bekannt und alle anderen haben keine Reaktionsmöglichkeit. Sie ist oft verknüpft mit einem Handlungsmodus von Befehl und Gehorsam. Die zugehörige Gesellschaftsform ist die Monarchie. Der König hat aufgrund seiner von Gott abgeleiteten Legitimität einen unhinterfragbaren Wahrheitsanspruch.
  2. Die Propagandaöffentlichkeit. Sie wendet sich durch von Wenigen kontrollierte Kanäle an die Massen der Empfänger. Allerdings muß sie Legitimität im Gegensatz zur Verkündigungsöffentlichkeit erst herstellen. Die Propaganda wird eingesetzt, um die Legitimität konkurrierender Ansprüche zu unterdrücken und die eigene zu stärken. Der zugehörige Handlungsmodus ist der von unkritischer Gefolgschaft. Die zugehörige Gesellschaftsform ist die Diktatur.
  3. Die Diskussionsöffentlichkeit. Hier wenden sich eine Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Interessenverbände an die Öffentlichkeit. Das Terrain der Auseinandersetzung ist ein mehr oder weniger gleichberechtigtes. Vorgebracht werden mehr oder weniger rational anmutende Argumente. Aber auch hier ist das Ziel der Veranstaltung die Herstellung von Legitimität. Der zugehörige Handlungsmodus ist die Repräsentation. Die zugehörige Gesellschaftsform die Demokratie.
  4. Als letztes schließlich gibt es die öffentlichen Inspirationscluster. Sie sind nicht auf die Schaffung von Legitimität ausgerichtet. Ihre Aufgabe ist die Herstellung von handlungsfähigen, egalitär organisierten Gruppen von Menschen ähnlicher Auffassungen. Sie sind nicht repräsentierbar und nicht beherrschbar. Ihr Handlungsmodus ist die gleichberechtigte Beziehung und ihre Gesellschaftsform ist der Commonismus.

Mit dieser Einteilung habe ich mir nun die Entwicklung der Internetmedien in den letzten Jahren angeguckt. Zum einen gibt es ein starkes Bedürfnis von Werbeabteilungen nach Öffentlichkeiten vom Typ 1 und 2. Sie versuchen diese immer wieder künstlich zu erzeugen, indem sie andere dafür bezahlen ihre Botschaften zu verbreiten. Sie operieren dabei oft jenseits der Legalität und mit großem technischen Aufwand. Gleichzeitig gibt es einen Trend zu personalisierter Werbung und Datensammelwut, um diese zu verbessern.

Interessanter ist aber die Entwicklung der Basismedien. Es ist ja nicht so, dass es das „Mitmachweb“ erst seit dem „Web 2.0“-Hype geben würde. Schon immer gab es Mailinglisten und Newsgroups. Später kamen dann Webforen dazu. Schließlich Wikis und Blogs und als neueste Innovation das Microblogging. Interessant an dieser Entwicklung ist, dass sie zunehmend an einem neuen Leitbild ausgerichtet sind. Während in der Anfangszeit der Mitmachmedien die Vorstellung einer idealen Diskussion unter demokratischen Vorzeichen, also der Diskussionsöffentlichkeit, vorherrschte, nähern sich die neuesten Medien immer mehr dem Leitbild der Inspirationscluster an. Am Auffälligsten wird das, wenn man sich die Entwicklung von Flamewars und Trolling anguckt. In Mailinglisten und Newsgroups waren sie ein stetes Ärgernis. Man konnte Öffentlichkeiten schaffen, in denen sie nicht so oft vorkamen und nicht so sehr störten, aber das erforderte einen enormen Aufwand. In Blogs und Wikis kommen sie noch gelegentlich vor und sich von ihnen fern zu halten, wird leichter. In Twitter oder laconi.ca schließlich hab ich noch keine gesehen. Beides, Trollen und Flamewars bezieht sich zum einen auf das Schaffen und Zerstören von Legitimation und benötigt zum anderen eine möglichst große Öffentlichkeit. Damit kommen wir zum Zusammenwirken des Größenparameters mit dem Modus der Öffentlichkeit: In der Entwicklung der Mitmachmedien lässt sich ebenso eine Entwicklung von hierarchisch organisierten Teilöffentlichkeiten hin zu sich überlappenden Microöffentlichkeiten entdecken. Letztere schließlich bilden einfach keinen Nährboden mehr für Trolle und Flamewars. Ein Flamewar macht wenig Sinn, wenn jeweils die meisten Leser die Antworten gar nicht mitkriegen, und Trolle gibt es zwar weiterhin, aber keiner liest sie.

Inspirationscluster gibt es im übrigen auch nicht nur im Netz. Auch Offline gibt es Barcamps, Open Spaces und World Cafes. Alles Formen von überlappenden Microöffentlichkeiten zur Bildung von Inspirationsclustern.

Damit dürfte auch klar sein, was das alles mit Keimformen zu tun hat: Wenn wir wegkommen wollen von einer Gesellschaft, die geprägt ist von Interessenkämpfen und Herrschaft, dann braucht es dafür auch eine grundsätzlich neue Form von Öffentlichkeit, eine, die keinen Bezug zu Legitimität hat und strukturell nicht repräsentierbar ist. Microblogging ist in dieser Entwicklung hin zu sich überlappenden Microöffentlichkeiten der „State of the Art“, wenn auch sicherlich noch nicht das letzte Wort. Und als Bonus: Ich hab noch von keinem Twitterer gehört, der davon träumt, vom Twittern zu leben.

Das Microblogging im Zweifel auch ein wirksames Mittel sein kann, um sich gegen Angriffe zu wehren, oder ein nützliches Werkzeug für soziale Bewegungen, ist dabei eher ein netter Nebeneffekt. Ihre wahre Power liegt jenseits davon, darin, dass sich die Struktur der Öffentlichkeit ändert: Vom Livestream zum Lifestream.

Dieser Artikel hat eine Fortsetzung.

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