Selbstorganisierte Fülle

Beitragen statt tauschen[This article is also available in English.]

Angeregt durch meine Erfahrung der letzten Jahre und durch Überlegungen, die ich in meiner englischsprachigen Serie „The Earth’s the Limit“ (Teil 1, Teil 2) niedergelegt habe, habe ich meine Überlegungen zu einer möglichen künftigen Peer-Ökonomie weiterentwickelt. Anders als früher gehe ich nicht mehr von der Notwendigkeit einer Kopplung zwischen Geben und Nehmen aus. Der wichtigste Grund dafür ist, dass ich nicht mehr im menschlichen Tun, sondern in der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen die kritische Grenze sehe, mit der jede emanzipatorische Gesellschaft wird umgehen müssen.

Meine Ideen für ein solches „entkoppeltes“ Modell einer verallgemeinerten Peer-Produktion habe ich erstmals am 5. Mai in einem Vortrag in Fulda dargestellt; seit Anfang letzter Woche folgten mehrere Vorträge in Baden-Württemberg. Dieser Beitrag dokumentiert meine Vortragsfolien (in Form eines Handouts); in näherer Zukunft hoffe ich auch eine verschriftlichte Version des Vortrags vorlegen zu können. Ich hoffe, dass das Handout schon einige Anregungen geben kann, wie es ohne Kopplung von Geben und Nehmen (und natürlich ohne Zwang oder Geld) gehen kann.

Selbstorganisierte Fülle

Gemeingüter und Peer-Produktion als Grundlagen einer nichtkapitalistischen Gesellschaft

Das Internet als Ort der Fülle

Zwei Auffassungen von Fülle:

  • Fülle als grenzenlose Verschwendung
  • Fülle als „genau was ich brauche“

Das Internet ermöglicht beide.

Nicht die Gesamtheit, aber ein größerer Teil dieser Fülle wird in commonsbasierter Peer-Produktion hervorgebracht.

Commonsbasierte Peer-Produktion

Gemeingüter (Commons)
werden von einer Gemeinschaft entwickelt und gepflegt und sind für die Nutzer/innen nach gemeinsam festgelegten Regeln verfügbar.
Peer-Produktion
Freiwillige Kooperation zwischen Gleichberechtigten („Peers“), die zu einem gemeinsamen Ziel beitragen.
Commonsbasierte Peer-Produktion
Peer-Produktion, die auf Commons aufbaut und Commons herstellt und erhält.

Beispiele für Peer-Produktion

Beispiele digitaler Peer-Produktion (zum Vergrößern klicken)

  • Freies Design (Open-Source-Hardware): Projekte entwickeln gemeinsam materielle Produkte und veröffentlichen alle benötigten Informationen (Objektbeschreibungen, Konstruktionspläne, Handbücher…) als Freies Wissen.
  • Freie Funknetze: selbstorganisierte Computernetzwerke, die freien Datenverkehr zwischen Computern ermöglichen und freie Zugangspunkte ins Internet zur Verfügung stellen.
  • Gemeinschaftsgärten (community gardens): kleine selbstverwaltete Allmenden, die an vielen Orten der Welt, meist in städtischen Umgebungen, entstanden sind.
  • BookCrossing und ähnliche Projekte: Bücher „wandern“ von einer Leser/in zur nächsten.

Gründe für Peer-Produktion

Warum beteiligen sich Leute an Peer-Produktion, wenn sie damit kein Geld verdienen und von niemand dazu gezwungen werden?

Pragmatische Gründe
Man beteiligt sich an der Produktion eines Gutes, das man selbst gern hätte.
Spaß/Befriedigung
Man übernimmt Aufgaben, die man gerne macht.
Ethische Gründe
Man beteiligt sich, um der Gemeinschaft etwas zurückzugeben und seinen Nachbarn zu helfen.

Faustregeln für die Zusammenarbeit

  1. Finde andere Leute, die (ungefähr) dasselbe Problem oder Ziel haben wie du.

    Eric RaymondJede gute Software setzt an einer Stelle an, wo’s ihre Entwickler/in juckt.

    – Eric Raymond, Die Kathedrale und der Basar

  2. Produziere mit ihnen gemeinsam, was ihr haben oder erreichen möchtet (Bedürfnisprinzip).
  3. Seid fair und akzeptiert die anderen als ebenbürtig, als eure „Peers“ – da ihr alle freiwillig mitmacht, kann niemand den anderen Befehle erteilen.
  4. Seid großzügig und teilt was ihr könnt, denn das wird weitere Benutzer/innen anziehen, die früher oder später zu Beitragenden werden können.
    Der Übergang von Nutzer/innen zu Beitragenden ist erfahrungsgemäß fließend: die meisten benutzen das Werk nur, manche tragen gelegentlich etwas zu seiner Weiterentwicklung bei, und nur ein kleiner Teil beteiligt sich regelmäßig und intensiv.
  5. Seid offen und ermuntert andere, in das Projekt einzusteigen.
  6. Hinterlasst den anderen Beteiligten und potenziell Beteiligten Hinweise darauf, was noch zu tun ist und was für Beiträge ihr gerne sehen würdet (Stigmergie).
    Wer mitmachen will, folgt vielleicht diesen Hinweisen und entscheidet sich freiwillig per Selbstauswahl für eine der gewünschten Aufgaben. Je mehr Beteiligten eine Sache am Herzen liegt, desto deutlicher werden die Hinweise und desto größer die Chance, dass sich jemand ihrer annimmt.
    Beispiele für Hinweise:

    • To-Do-Listen, Bug Reports, Feature Requests
    • Wikipedia: „rote Links“, Gewünschte Artikel
  7. Entwickelt gemeinsam die Projektstrukturen, die für die Zusammenarbeit am besten sind.
  8. Bemüht euch, einen groben Konsens über Ziele und Vorgehensweisen mit den anderen Beteiligten zu erreichen, denn wer nicht zufrieden ist, wird früher oder später gehen.

    David ClarkWir lehnen ab: Könige, Präsidenten und Abstimmungen.
    Wir glauben an: groben Konsens und lauffähigen Code.

    – David Clark, Internet Engineering Task Force

  1. Wenn ihr euch mit den anderen in der Sache oder in der Organisation gar nicht mehr einigen könnt, forkt das Projekt: trennt euch von den anderen und macht euer eigenes Ding.

Der Beitrag des Kopierens

Die drei Freiheiten

Kopieren allein schafft noch keine Fülle, denn wenn man nur kopieren würde, würde nie etwas Neues entstehen. Deshalb müssen bei Freien Werken (ob Software, Inhalte oder Baupläne) die folgenden drei Freiheiten garantiert sein:

  • Die Freiheit, das Werk nach Belieben zu verwenden.
  • Die Freiheit, das Werk zu untersuchen und es an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
  • Die Freiheit, das Werk mit anderen zu teilen (zu verbreiten) und damit seinen Mitmenschen zu helfen.

Auch Kombinationen der drei Freiheiten müssen erlaubt sein – traditionell ist bei Freier Software von vier Freiheiten die Rede, wobei die vierte Freiheit die Kombination der beiden vorigen ist (Verbesserungen verbreiten).

Copyleft

Die drei Freiheiten sind keine bloßen Versprechen – sie sind unwiderrufliche Rechte, die allen Menschen eingeräumt werden.

Was ist mit angepassten Versionen? Wenn ein Werk unter Copyleft steht, sind die drei Freiheiten auch für alle abgeleiteten Werke garantiert: ich darf ein abgeleitetes Werk nur dann veröffentlichen, wenn ich allen potenziellen Nutzer/innen dieselben Rechte einräume.

Die Freiheit dieser Werke ist damit für alle Zeiten und für alle Weiterentwicklungen gesichert.

Materielle Fülle und Öko-Fußabdruck

Ökologischer Fußabdruck
Fläche auf der Erde, die nötig ist, um den Lebensstil einer Gruppe von Menschen dauerhaft zu ermöglichen.

Der ökologische Fußabdruck der Menschheit beträgt derzeit etwa 17,1 Milliarden globale Hektar, die verfügbare Biokapazität der Erde umfasst aber nur 11,9 Milliarden globale Hektar. Diese Übernutzung ist auf Dauer unmöglich – wir leben auf Kosten unserer Kinder, denen die übernutzten Ressourcen später fehlen werden.

Dieses „wir“ ist allerdings sehr ungleich verteilt:

Fußabdruck pro Person (zum Vergrößern klicken)→ Wir im „globalen Norden“ leben auch auf Kosten der Menschen anderswo.

Materielle Fülle für alle muss sich im Rahmen des dauerhaft möglichen ökologischen Fußabdrucks abspielen. Das schließt Fülle als grenzenlose Verschwendung aus, aber nicht unbedingt Fülle als „genau was ich brauche“.

Materielle Fülle für alle?

Kann commonsbasierte Peer-Produktion in diesem Rahmen materielle Fülle für alle erzeugen? Der Kapitalismus kann es jedenfalls nicht, denn:

  • Die Notwendigkeit der permanenten Verwertung möglichst allen Kapitals (und seiner Zuwächse) zwingt zum möglichst weitgehenden Wachstum, was zwangsläufig zur Übernutzung der irdischen Biokapazität führt.
  • Kapitalistisch produzierte Güter sind immer knapp, denn nur was knapp ist, kann verkauft werden.
  • Der Zwang zur Konkurrenz bedeutet, dass Gewinne für die einen immer Verluste für die anderen sind.

Die Voraussetzungen der Peer-Produktion sind besser, weil sie auf dem Bedürfnisprinzip basiert: produziert wird aufgrund der produktiven oder konsumptiven Bedürfnisse der Beteiligten, nicht aufgrund eines abstrakten Ziels wie der Kapitalverwertung.

Meine Bedürfnisse gehen aber nicht unbedingt auf Kosten der Bedürfnisse der anderen noch auf Kosten der Natur. Im Gegenteil funktioniert Peer-Produktion deshalb so gut, weil sich die Beteiligten gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unterstützen, was für alle Beteiligten von Vorteil ist.

Die Freiheit zu teilen

„Seid großzügig und teilt was ihr könnt“ → Wie lässt sich die Freiheit, Dinge mit anderen zu teilen (zu verbreiten) und damit seinen Mitmenschen helfen, im Materiellen realisieren?

  • Vervielfältigung:

    Copying is not theft
    Wenn ich dein Fahrrad klaue,
    musst du den Bus nehmen.
    Wenn ich es aber kopiere,
    haben wir beide eins!

    Wenn man die gesamten Baupläne (Freies Design) sowie die benötigten Ressourcen und Produktionsmittel hat, sind auch materielle Produkte kopierbar.

  • Gemeinsame Nutzung: manche Dinge werden durch gemeinsame Nutzung nicht schlechter, sondern besser – je mehr Leute „den Bus nehmen“, desto höher die sinnvolle Frequenz.
    Bei Netzwerken (Internet, Telefon…) steigt mit jede/r Teilnehmer/in die Anzahl der Kommunikations- und Nutzungsmöglichkeiten („Netzwerkeffekt“). Einzelne Zugangspunkte lassen sich oft problemlos durch mehrere Teilnehmer nutzen, weil einzelne nur selten und kurzfristig die gesamte Kapazität gebrauchen können (die Idee der Freien Funknetze).
  • Poolen:

    Da ich eh den Bus nehme, kannst du heute mein Fahrrad haben.

    Dinge, die man nicht ständig braucht, können gepoolt werden (z.B. Carpool, Werkzeugpool). Dies senkt den Ressourcenverbrauch sowie den Aufwand für Herstellung und Pflege, lässt aber allen die Möglichkeit, diese Dinge zu nutzen, wenn sie gebraucht werden.

  • Weitergeben: da für den Gebrauch (nicht für den Verkauf) produziert wird, kann ich an andere weitergeben, was ich selbst nicht mehr gebrauchen kann.
    Denkbar ist eine entsprechende (ethische) Verpflichtung der Nutzer/innen durch die Produzent/innen. Wenn diese Verpflichtung auch transitiv (für mithilfe dieses Guts hergestellte Güter) gilt, wäre sie eine Art Gegenstück zum Copyleft im materiellen Bereich.

Dezentrale commonsbasierte Produktion

„Wenn man die gesamten Baupläne (Freies Design) sowie die benötigten Ressourcen und Produktionsmittel hat, sind auch materielle Produkte kopierbar.

Die benötigten Ressourcen und Produktionsmittel sind bei Peer-Produktion Gemeingüter oder verteilter Besitz.

Digitale Peer-Produktion basiert maßgeblich auf der Ressource Wissen, die in der Praxis Freier Projekte und dem Anspruch nach generell als Gemeingut behandelt wird.

Wikipedia-LogoStellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch freien Zugang zur Gesamtheit allen Wissens hat.

– Wikimedia Foundation

Freies Design, d.h. Freies Produktionswissen, ist eine wichtige Säule in der materiellen Peer-Produktion.

Der Logik der Peer-Produktion zufolge sind im materiellen Bereich die Naturressourcen ebenfalls als Gemeingüter zu betrachten, die von allen anteilig genutzt werden dürfen, gleichzeitig aber gemeinsam gepflegt und für künftige Generationen erhalten werden müssen. Das ist die zweite Säule.

Karl MarxSelbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias [gute Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.

– Karl Marx: Das Kapital, Band 3

In der digitalen Peer-Produktion gehören die materiellen Produktionsmittel (Computer etc.) meist einzelnen Beteiligten, wobei sie als Besitz (was man benutzt), nicht als Eigentum (was man nach Belieben verkaufen oder verwerten kann) verwendet werden. Die Verteilung des Besitzes über viele unterschiedliche Personen verhindert, dass einseitige Abhängigkeitsverhältnisse entstehen können – niemand kontrolliert die Ressourcen, auf denen ein Projekt basiert.

Anfänge einer ähnlichen Entwicklung zeichnen sich im Bereich materieller Peer-Produktion ab: dezentrale, selbstorganisierte produktive Infrastrukturen, die allen den Zugang zu Produktionsmittel ermöglichen.

Beispiele:

  • Mesh-Netzwerke wie die Scarborough Wireless User Group (Südafrika) – heute für Internet und Telefon, künftig auch für Energie und Wasser?
  • Hackerspaces mit Infrastruktur zum Produzieren, Lernen und Entspannen.
  • Fab Labs mit Produktionsmaschinen (CNC-Maschinen, 3D-Drucker…), die für dezentrale Produktion verfügbar sind.

Noch müssen die verwendeten Maschinen mindestens teilweise auf dem Markt eingekauft werden, doch sobald sie selbst in Peer-Produktion hergestellt werden können, wird es extrem spannend. Das ist die dritte Säule der materiellen Peer-Produktion.

Die vierte und wichtigste Säule sind die Beiträge der Beteiligten, die die Peer-Produktion erst ermöglichen.

Faire Ressourcennutzung

„Seid fair und akzeptiert die anderen als ebenbürtig, als eure ‚Peers‘“ → Aber was, wenn einzelne unfair sind und z.B. dauerhaft mehr Ressourcen verbrauchen wollen, als ihnen im Rahmen des ökologisch Möglichen zustehen?

In Peer-Projekten ist die typische Reaktion auf wahrgenommenes Fehlverhalten zunächst Schimpfen und Schneiden („flaming and shunning“). Wenn dies nichts hilft, bleiben Boykott und Ausschluss (strategische Nicht-Kooperation) als härtere Konsequenzen.

Da alle Menschen auf die Kooperation mit anderen angewiesen sind, dürfte es niemand möglich sein, ohne guten Grund dauerhaft mehr als den eigenen fairen Anteil zu verbrauchen und damit auf Kosten anderer (bzw. unserer Kinder) zu leben.

Aufgaben-Fairness

Normalerweise erfolgt die Aufgabenverteilung in Peer-Projekten per Selbstauswahl und Stigmergie. Was tun, wenn dies nicht funktioniert, wenn sich für bestimmte Dinge, die den Menschen wichtig sind, keine Freiwilligen finden? Denkbare Ansätze sind z.B.:

  • Automatisierung: die entsprechenden Tätigkeiten wegautomatisieren.
  • Umorganisation: die Tätigkeiten angenehmer (unterhaltsamer, interessanter, leichter) machen, so dass sich Freiwillige finden.

Falls dies nicht möglich ist, können die unangenehmen Aufgaben auf faire Weise aufgeteilt werden: wenn alle (bzw. alle, denen sie wichtig sind) hin und wieder einen kleinen Teil übernehmen, muss niemand viel damit zu tun haben.

Was sind die Unterschiede?

  • Bedürfnisbefriedigung, nicht Profit, ist Ziel der Produktion.
  • Direkte, lose koordinierte Kooperation mit anderem statt Kauf und Verkauf.
  • Die Produktionsmittel sind Gemeingüter oder verteilter Besitz, sie können von allen gemeinsam genutzt werden – es gibt keine doppeltfreien Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssten.
  • Es gibt im Produktionsprozess keine Konkurrenten, die man ausstechen müsste. Stattdessen ist es für die Produzent/innen sinnvoll, sich mit den anderen zusammenzutun oder abzustimmen, um ihre Ziele möglichst optimal und mit wenig Aufwand erreichen zu können.
  • Schnellere Verbreitung von Wissen und Innovationen, da mit der Notwendigkeit des Auskonkurrierens der Sinn von Geheimhaltung entfällt.
  • Kein struktureller Zwang zum Wachstum mehr – ob die Gesamtheit der produzierten Gebrauchswerte zunimmt, hängt allein von den Präferenzen der Menschen ab.
  • Wenig Regulierungsbedarf, da die Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise (zwischen Konkurrenten; zwischen Kapitalisten und Arbeiter/innen) entfallen – der Staat, wie wir ihn heute kennen, wird überflüssig.

Materialien

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