Die Piratenpartei auf dem Weg vom Schwarm zum Mob

Zur Europawahl hatte ich noch zur Wahl der Piratenpartei aufgerufen. Dazu stehe ich auch weiterhin. Seitdem hat sich diese Partei aber stürmisch entwickelt und ich fürchte nicht zu ihrem Besten. Warum interessiere ich mich überhaupt so sehr für diese Partei, dass ich mir mehrfach die Mühe gemacht habe ihre Entwicklung kritisch zu begleiten? Eigentlich sind wir Keimformer ja ansonsten nicht gerade für unsere Begeisterung für Parteien bekannt. Auch ich halte Parteien im Grunde für eine veraltete Form repräsentative Öffentlichkeiten zu beeinflussen.

Dennoch: Wenn es überhaupt so etwas wie eine antipolitische Partei geben kann, dann haben die Piraten viele Eigenschaften, die sie in diesem Sinne interessant machen:

  • Sie beschränken sich auf wenige Themen und haben (noch) nicht den Anspruch das gesamte Politikfeld abzudecken. Das wird meistens als Bug präsentiert. Ich halte das eher für ein Feature. Ich bin nicht mehr gezwungen ein ganzes Ticket zu ziehen. Ich kann mich konkret für die mir wichtigen Themen engagieren, wenn ich mich für die Piraten engagiere.
  • Sie sind auf der Suche nach neuen Formen von Mitmachpolitik. In ihrem Wiki wird um Positionen gerungen und jeder mischt mit. Sie experimentieren mit Liquid Democracy. Das alles sind Formen, die an der Repräsentation als solcher Kratzen.
  • Sie kommen von außen auf den Politikbetrieb und konfrontieren diesen mit den neuen Formen der Kommunikation. Im Netz haben sie die Altparteien im Wahlkampf immer wieder sehr schön vorgeführt. Obamas viel gerühmte Netzkampagne war im Grunde altbacken dagegen.
  • Sie haben tief in ihrer Identität als Piraten eine grundsätzliche Marktinkompatibilität vergraben. So tief, dass sie das selbst nicht wissen allerdings. Die Förderung des freien Informationsaustauschs auch durch Filesharing ist unter den Bedingungen des Wissenskapitalismus mit diesem inkompatibel. Marktinkompatibilität bedeutet aber immer auch Politikinkompatibilität und ist deswegen antipolitisch.

Aus all dem eine Partei zu schmieden ist der Versuch der Quadratur des Kreises. Wie sieht dieses Vorhaben in der Praxis aus? Eine kurze Chronologie der Ereignisse der letzten Monate:

  • Der bekannte MdB Jörg Tauss tritt wegen der Zustimmung der SPD zum Zensurgesetz aus ihr aus und in die Piratenpartei ein. Tauss Kariere war schon vorher durch den Vorwurf des Besitzes von Kinderpornographie verbrannt. Bei den Piraten zählt er wieder was, das wird ihn freuen. Die Piraten erhielten dadurch jede Menge Publicity im Wahlkampf. Alle kritischen Überlegungen wurden mit einem abstrakten Rückgriff auf die Unschuldsvermutung beiseite gewischt. Was dabei vergessen wurde: Nur weil jemand vor Gericht seine Unschuld beweisen darf, heißt das ja noch lange nicht, dass ich seinen Beitritt feiern muss. Tauss hat entweder wirklich Kinderpornos gehabt oder war unglaublich dämlich. Beides qualifiziert ihn nicht gerade als Galionsfigur einer Bewegung, die ja eigentlich sagt, dass sie effektiver gegen Kinderpornographie vorgehen will, als die Regierenden. Sein Beitritt als solcher ist im Grunde seine Privatsache, aber die propagandistische Ausschlachtung der Piraten und die Begeisterung ihrer Mitglieder fand ich schon seltsam.
  • Bodo Thiessen relativierte den Holocaust und konnte mit dieser Meinung jahrelang bei den Piraten was werden. Erst als das von Außen massiv kritisiert wurde machte man einen Rückzieher und leitete ein Ausschlussverfahren gegen ihn ein – auch wenn es schon vorher Auseinandersetzungen mit ihm gab hatten die keine wirklichen Konsequenzen. Positiv beeindruckt war ich von einer Basisinitiative innerhalb der Partei, die sehr schlüssig begründet hat, warum seine Entschuldigung keine war. Hier hat es die Partei geschafft von der sonst vorherrschenden formalistischen Ebene weg zu kommen. Erschreckend nur, dass auch in diesem Fall geschätzt ein gutes Drittel der Piraten dafür war Bodo Thiessen in der Partei zu behalten. Begründet wurde das meistens wieder mit einem formalistischen Bezug auf die Meinungsfreiheit. Auch Thiessen selbst verteidigte sich damit, dass er ja nix strafbares gesagt hätte. Hier ging es aber um Koalitions- und nicht um Meinungsfreiheit. Man muss jemanden nicht in einem Verein dulden, dessen Meinung man nicht mag, auch nicht wenn man die Meinungsfreiheit fundamentalistisch auslegt, so wie es viele Piraten tun.
  • Als nächstes kam die Genderdebatte, die auch hier im Blog stattgefunden hat. Die Kommentare in all den Blogs die sich daran beteiligt haben quellen über von sexistischen Kommentaren. Hier schlugen sogar bizarre Antisemitismen in dem Zusammenhang auf (die ich gelöscht habe). Bei all dem weiß man nicht, was davon Piraten sind und was nicht. Sind die Piraten antifeministisch unterwandert? Wünschenswert wäre es, wenn die Piraten selbst sich diese Frage stellen. Aber auch hier: Es wird sich auf formalistische Argumentationen zurückgezogen und der eigene Postfeminismus wird zum gesellschaftlichen Normalzustand phantasiert und das alles wird begleitet von einem sexistischen antifeministischen Mob.
  • Die neuesten Vorfälle: Der Parteivorsitzende und sein Stellvertreter geben der Jungen Freiheit Interviews. Das ist eine nationalkonservative Zeitung mit Scharnierfunktion in die Nazi-Szene, die schon seit Jahrzehnten versucht durch nicht-rechte Autoren und Interviewpartner satisfaktionsfähig zu werden. Selbst die allermeisten CDU-ler verweigern sich dieser Strategie. Nicht so der Vorsitzende der Piratenpartei. Wieder wird formaljuristisch mit Meinungsfreiheit argumentiert und das man ja jeden überzeugen wolle. Das ist im besten Fall bodenlos naiv. Das wird begleitet von einem Chor von Piraten(?), die sich freuen, dass den Linken Zecken und Gutmenschen mal gezeigt wird wo es lang geht. Abgrenzungen werden – wenn überhaupt – nur totalitarismustheoretisch begründet. Die Linken werden gleich mit entsorgt.
  • In einem Werbespot für die Piratenpartei wird von der „Freiheit der Nation“ gesprochen. Auch hier wieder ein völlig unkritischer Umgang mit einem alles andere als harmlosen Begriff.
  • Der Wahlkampf zur Bundestagswahl besticht vor allem durch Inhaltsarmut. Was bitte unterscheidet einen Spruch wie „Klarmachen zum ändern“ von inhaltsleerer Parteipropaganda a la „Wir haben die Kraft“? Auch auf der Demo Freiheit statt Angst haben wohl eher andere für die Inhalte gesorgt, während die Piraten vor allem mit Love-Parade beschäftigt waren. Was ja nichts schlechtes sein muß, nix gegen Party, aber ein bisschen mehr Inhalt als nur orange Fahnen erwartet man doch schon.
  • UPDATE: Man brüstet sich damit, dass die Freien Wähler Düsseldorf zum wählen der Piraten aufrufen. Übersieht dabei aber, dass diese seit Jahren einen waschechten Nazi in den eigenen Reihen haben und auch noch zu vermehrter Videoüberwachung in ihrem Programm aufrufen. Kann man das noch mit bloßer politischer Unerfahrenheit erklären oder wird hier schon absichtlich versucht in rechten Gewässern zu fischen?

Bei all dem ist oft schwer auseinander zu halten was davon jetzt Piraten sind und was Andere, die sich da nur drauf stürzen, weil es ihren eigenen Interessen dienlich ist.

Die Schwarmintelligenz der Piraten droht zum Mob zu verkommen genau in dem Moment wo sie im Wahlkampf unter Druck geraten und gleichzeitig einen enormen Mitgliederzuwachs haben. Dann schart man sich ganz schnell um die eigenen Führer und beißt alles weg, was nach Kritik riecht.

Die Lehre für uns: Wenn man versucht mit den Mitteln der Peer-Production in Systeme zu intervenieren, die nach klassischer Repräsentationslogik funktionieren (Parteien, Staat, Wahlkampf), ist die Gefahr groß, dass die dunkle Seite der Macht die Oberhand gewinnt. Es mag sein, dass mal eine Zeit kommt in der auch Commons-Logik in Parteien möglich wird. Zur Zeit und bei den Piraten geht es nach hinten los. Die Mischung von äußerem Druck und innerer Orientierungslosigkeit führt offensichtlich sehr schnell zur Verdummung des Schwarms. Ein weiteres Moment scheint auch zu sein, dass ihre eigentliche Parteistruktur noch sehr klassisch ist (Vorstand, Parteitag, …), das kommt den Schwarmstrukturen oft auch ins Gehege. Ich hoffe für die Piraten, dass sie nach der Wahl die Ruhe und Gelassenheit finden auf die vernünftigen Stimmen in ihren eigenen Reihen zu hören – falls die bis dahin nicht schon wieder weg sind. Auf meine Stimme können sie erst wieder zählen, wenn der Mob das Beißen aufhört und sich wieder in einen intelligenten Schwarm verwandelt.

Zum Abschluß noch ein kleines Zitat von Erich Mühsam von 1907, der zeigt, dass das Problem schon älter ist als das Web 2.0:

„Der Mittelmensch, der Bürger, der aus der Not seiner Wesensgleichheit mit all seinen Mitmassenmenschen eine Tugend herleitet, hat gleichwohl das starke, seelische Bedürfnis, sich persönlich zu dokumentieren. Das innerstempfundene Gefühl seiner eigenen Unwesentlichkeit, der letzten Endes auch im Nichtigsten schlummernde Drang nach Unsterblichkeit, der verborgene Trieb, irgendwie doch einen noch so verschwommenen Schatten zu werfen, drängt ihn ans Sonnenlicht. Aus diesem Triebe sind so viele Äußerungen zu verstehen, die dem kleinen Mann Vergnügen machen. Wird irgendwo ein Haus photographiert, gleich stehen eine Reihe guter Leute in Positur vor der Fassade, um mit aufs Bild zu kommen. Sie werden ihr Konterfei nie zu sehen kriegen, der Photograph und der Besitzer des Hauses, die es anschauen werden, werden nie erfahren, wer die Leutchen sind, deren Typen sie vor sich haben, werden sich auch nie Gedanken darüber machen – aber der Bürger fühlt seine Befriedigung, weil seine Physiognomie irgendwo festgehalten ist; seinem Unsterblichkeitsdrange ist wenn auch noch so dürftig – Genüge geschehen. Ein noch beliebteres Mittel, seine Wesenheit in die Ewigkeit hinüberzuretten, ist das Anschreiben des Namens an Stellen, wo recht viele fremde Menschen ihn lesen werden, auf die Ruhebänke in gernbesuchten Parks, vor allem an Pissoirwände. Den Kommis und den Bäckergesellen, den Primaner und den Bücherrevisor überkommt ein Gefühl innerster Beruhigung, wenn er das Häuschen mit dem Bewußtsein verläßt, für seinen Nachruhm etwas getan und – sei es nur durch seinen Namenszug, sei es durch eine schweinische Zeichnung oder einen obszönen Vers – seiner tieferen Wesensart den Sprung in die Ewigkeit erleichtert zu haben. Jedenfalls hat er seiner Existenz einen weiteren Resonanzboden geschaffen, als sie auf korrektere Art gefunden hätte.

Mit diesem Phänomen rechnet die sozialdemokratische Parteileitung; muß sie rechnen, um. eine Massenbewegung hinter sich zu haben. Sie muß ihren Mitgliedern, grade weil sie sich zu einer die Persönlichkeit eliminierenden Tendenz bekennen sollen, die Gelegenheit bieten, sich persönlich wichtig zu machen. Mit welchem Stolz geht der Wähler zur Urne! Erfüllt er sein heiligstes Recht, alle fünf Jahre einmal einen Zettel mit dem Namen einer anderen Null feierlich zur Auszählung abzuliefern! Wie unentbehrlich kommt er sich vor! Sein Name steht in den Wahlregistern eingetragen, wird öffentlich aufgerufen; er kann selbst hervortreten, sich coram publico zu seinem Namen bekennen, kann sogar zwischen verschiedenen Zetteln, die ihm Weltanschauungen repräsentieren, aussuchen und kommt sich vor, als ob er am Steuerrad der Historie drehte. Die Befriedigung, die ihm das Bemalen der Abtrittswand erweckt, erfüllt sich beim Wahlakt potenziert.“

Wir erleben also gerade wie eine Partei, die angetreten ist neue Mittel der Politik zu erfinden zurück fällt in uralte Rituale, die so alt sind wie die Demokratie. Nur sind jetzt aus den Klowänden des Kaiserrreichs die Klowände des Internets geworden.

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