Vom Livestream zum Lifestream (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Serie habe ich behauptet, dass sich die Struktur der Öffentlichkeit nicht nur generell von Massenmedien hin zu Netzmedien wandelt sondern auch innerhalb der Netzmedien ein Wandel stattfindet von einem Öffentlichkeitsmodus der Diskussion zu einem der Inspiration. Das hat die Frage aufgeworfen, wie denn in diesem neuen Modus der Öffentlichkeit das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit sei. Auch hier will ich zunächst wieder alle vier Modi der Öffentlichkeit auf diese Frage hin untersuchen:

  1. In der monarchischen Verkündigungsöffentlichkeit ist das Leben des Monarchen dem Anspruch nach komplett öffentlich und auch das seiner Untertanen ist ständigem Zugriff ausgesetzt. Es gibt schlicht keine Trennung von Privat und Öffentlich.
  2. In der diktatorischen Propagandaöffentlichkeit ist nur einseitig das Leben der Untertanen geöffnet. Die Herrschenden sichern sich eine Privatsphäre auf die niemand Zugriff hat.
  3. In der demokratischen Diskussionsöffentlichkeit haben prinzipiell alle Menschen ein „Recht auf Privatsphäre“. Ihr Leben verläuft der Tendenz nach in zwei unterschiedlichen getrennten Sphären, der privaten und der öffentlichen Sphäre. Tendenziell sind diesen beiden Sphären auch die beiden Geschlechter zugeordnet.
  4. In den commonistischen Inspirationsclustern schließlich wird von Fall zu Fall entschieden was man für sich behält und was welche Gruppen wissen sollen. Jeder ist einerseits Souverän seiner Daten und andererseits hat auch jeder mit Suchmaschinen Zugriff auf alles was jemals jemand öffentlich gemacht hat.

Wie ist nun die aktuelle Entwicklung? Wir beobachten zum einen Rückfälle in monarchische Öffentlichkeiten zum Beispiel in der Allgegenwart der kleinsten Alltagshandlungen von Medienstars oder des öffentlichen Lebens von Containerinsassen. Das ist allerdings eher die Karikatur der alten monarchischen Öffentlichkeit.

Schließlich erleben wir schon seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einen weltweiten Trend zu neuen Formen diktatorischer Öffentlichkeit. Mit dem „Krieg gegen den Terror“ hat das neue Ausmaße angenommen. Vorratsdatenspeicherung, Schnüffelskandale und BKA-Gesetz sind die hierzulande prominentesten Vorgänge in dieser Richtung, aber wöchentlich finden sich neue Projekte von Sicherheitsbehörden oder Konzernen, die Privates einseitig Öffentlich machen.

Durch den Boom von Blogs, Chats und Twitter schließlich ergibt sich eine Vielzahl von Inspirationsclustern. Der demokratische Diskussionsmodus befindet sich in weiter Front auf dem Rückzug. Das wird nicht zu letzt an den schwindenden Mitgliedszahlen von großen Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, die in der Vergangenheit diese Form der Öffentlichkeit dominiert haben, deutlich. Er wird durch eine Zunahme aller drei anderen Modi in die Ecke gedrängt.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Entstehung einer neuen Datenschutzbewegung in Deutschland. Diese Bewegung ist die erste größere hierzulande, die originär im Netz geboren wurde und vom Netz getragen wird. Hier wurde zum ersten mal erfolgreich für Großdemonstrationen in den Inspirationsclustern mobilisiert. Mit der Theorie der vier Modi lässt sich dieser Vorgang verstehen als Verteidigung gegen einen Angriff der Propagandaöffentlichkeit auf die Diskussionsöffentlichkeit mit den Mitteln der Inspirationscluster. So wird das scheinbare Paradox verstehbar, dass Massenhaft zu einer Datenschutzdemo mobilisiert wird von Leuten, die noch die kleinesten Details ihres Lebens ins Netz stellen, denn tatsächlich ist eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit Bedingung für die Entwicklung von Inspirationsclustern. Die Freie Wahl von Fall zu Fall kann ich nur haben, wenn ich überhaupt eine Wahl habe. Nur durch den Schutz der Privatsphäre ist es heute möglich in einem feindlichen Umfeld Inspirationscluster zu leben. Das bedeutet aber auch, dass die „eigentlichen“ Interessen dieser Bewegung jenseits eines reinen „Datenschutzes“ liegen. Selbst der Wahlspruch des CCC „private Daten schützen, öffentliche Daten nützen“ geht dabei nur den halben Weg zum Inspirationscluster.

Inspirationscluster wiederum lassen sich nicht verstehen ohne einen Bezug auf die „Commons“. An anderer Stelle haben wir schon festgestellt, dass die Commons immer in konkreten Gemeinschaften von „Commoners“ am Leben gehalten und ausgeweitet werden. Das Gemeinsame ist nicht bloß eine Ressource auf die privatisierte Individuen getrennt voneinander zugreifen – diese Vorstellung liegt letzten Endes der Vorstellung von der unausweichlichen „Tragödie der Allmende“ zu Grunde. Das Gemeinsame ist vielmehr ein sozialer Zusammenhang der durch Kommunikation zusammengehalten wird. Dieser soziale Zusammenhang wird gerade nicht durch eine Trennung von öffentlicher und privater Sphäre hergestellt. Im Gegenteil ist diese Trennung schädlich für den Aufbau von Vertrauen, dass die Basis jeder Kommunikation und somit auch der Commons ist. Der passende Modus zur Stärkung der Commons sind also die Inspirationscluster, nicht die demokratische Diskussionsöffentlichkeit. Die Commoners bewegen sich also auf einem schmalen Grat zwischen Verteidigung der Diskussionsöffentlichkeit und Kreation der Inspirationsöffentlichkeit. Dieser schmale Grad birgt viele Gefahren. Sicherlich nicht die kleinste ist ein Rückfall in kleine sich abgrenzende Gemeinschaften, die von der Welt abgeschlossen ihre Kuschelnischen pflegen und dort dann früher oder später der Dunklen Seite der Macht huldigen. Diesen schmalen Grat zu leben nenne ich die Dialektik des Datenschutz.

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